31. Juli 2015

In der eigenen Haut statt in fremden Bildern leben

– das Bild wurde aufgenommen von Michael Gebendorfer

DENKBILDER Regula Stämpfli über die Bilderflut und „ratternde Algorithmen“

Christopher Haerle hat uns mit „Die Tränen der Lukrezia“ein zauberhaftes Kunstwerk geschenkt. Als ich mich drüberbeugte, winkte mir – zugegebener- massen etwas traurig – Narziss zu. Der Jüngling, der keinen lieben konnte ausser sein Spiegelbild und darüber jämmerlich ersoff. Kürzlich wurde mir ein Spiegel vorgehalten und zwar in Form eines Fotos, dessen Ähnlichkeit sich mir in keiner Weise erschloss. Ich sah aus wie Tutanchamun kurz nach seiner Einbalsamierung und fühlte mich fremdbebildert und danach völlig verloren.

Bilder haben einen magischen Charakter. Sie zeigen nicht einfach die Wirklichkeit, sondern sie formen diese. Und weil wir Menschen oft nicht zwischen Bildern und Welt unterscheiden mögen, können oder dies tun, nehmen wir die Abbildungen für bare Münze (sic!). Dabei ist manchmal die Wahrheit nie so fern wie auf einem Foto. Es gibt Bilder, die sind so stark, dass wir uns ihnen nicht entziehen können:„Schlank und schön“ beispielsweise sagt nichts über wahre Ästhetik, dafür aber alles über die Ware Ästhetik aus. Spätestens seit Photoshop wissen wir, dass Models Modelle verkörpern, aber sicher nicht wahre Frauenkörper. Bilder kneten und knechten also die Menschen und die Welt regelrecht (Frauen übrigens immer zuerst).

Sie bringen sie in Form, sie informieren. Bilder prägen auch die Sprache: Wörter sind oft nur Text-Bilder. Hören Sie „Flüchtling“ sehen Sie einen anderen Menschen vor sich als wenn Sie „Asylant“ lesen. Auf dem Vorderplatz der Graubündner Kantonalbank rieseln also die Tränen der Lucrezia. Für mich rieseln sie nicht nur in Erinnerung an die Ermordung von Jürg Jenatsch im Jahre 1639, sondern sie rieseln in einem Spiegel unserer Zeit, die nicht mehr zwischen Bild und Mensch unterscheiden will. PS: Das Foto von mir hab ich gelöscht, aber nicht die Erfahrung, die ich damit gemacht habe.

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