6. September 2013

DENKBILDER Regula Stämpfli über Kühe, Confit und Arendt – oder war es anders rum?

                                                                                                             -das Bild wurde aufgenommen von Yanik Bürkli

Reden wir übers Essen

Bündner Tagblatt, 6.9.2013

K

Kühe fressen Gras. Dies seit Jahr- hunderten und immer auf dieselbe Art und Weise. Menschen fressen Kühe, aber immer wieder anders. Vor 1530 wurde hierzulande geschleckt, ge- schlürft, geschmatzt. Da stand die halbe Kuh auf dem Tisch. Jeder langte nach der halben Kuh, schnitt ein Stück raus und verschlang es mit grosser Freude. Fleisch war so rar, dass man noch sehen musste, was es ursprünglich war. Die Finger wurden

fettig. Man leckte sie entweder ab oder putzte sie am Rock. Zwischendurch trank man aus dem gemeinsamen Krug und bot der Nachbarin das angebissene Stück Brot an.Das passte wiederum Erasmus von Rotterdam überhaupt nicht. 1530 schrieb er den Knigge der damaligen Zeit und meinte streng:“Lass das lieber“.
Der Weg der Kuh von der Wiese auf unsere Teller bestimmt seitdem die Menschheitsgeschichte. Es ist eine Geschichte der wachsenden Distanz. „Weltverlust“ nennt es die Philosophin Hannah Arendt, Marx „Entfremdung“
und der CEO der UBS „Wertschöpfung“. Je mehr Abstand zwischen der Kuh auf der Weide und dem Confit de boeuf gelegt wird, umso moderner gilt die Gesellschaft. Wo kämen wir hin, wenn wir einer Scheibe Bündnerfleisch noch die Kuh auf der Weide ansehen würden? In Deutschland ist teilweise das Stück Kuh billiger als die Meringue aus demEmmental. Das ist der Prozess der Zivilisation. Doch mit „zivilisiert“ hat die nur noch wenig zu tun. Was nicht bedeutet, dass ich die Kühe auf dem Bild niemals essen würde.

Schreibe einen Kommentar